Jorge Maria García Laguardia, war ehemals Präsident des Guatemaltekischen Verfassungsgerichtes und 1993 – 1997 einer der ersten Prokuratoren für Menschenrechte (PDH) (1) in Guatemala.
Dieses Interview erschien am 17. April 2017,in der Prensa Libre, der grössten und wichtigsten Tageszeitung Guatemalas. Es zeichnet meines Erachtens ein gutes Bild von der aktuellen Situation und der jüngsten Geschichte Guatemalas, und leistet einen guten Beitrag, um dieses vielschichtige Land besser zu verstehen.
Zum besseren Verständnis des Kontextes habe ich den Text durch erklärende Fussnoten ergänzt. Das Originalinterview in spanischer Sprache ist auf der Webseite von Prensa Libre nachzulesen.
Im Gespräch vertritt Jorge Maria García Laguardia die Meinung, dass 5% der Bevölkerung die übrigen Guatemaltekinnen und Guatemalteken beherrschen. Und er erinnert daran, wie seit dem Sturz der Regierung von Jacobo Arbenz (2) eine Gruppe von „Konservativen“ half, damit sich Militärs und Industrielle an den Schalthebeln der Macht festsetzen konnten.
Jorge Maria García, ist der Ansicht, dass es in Guatemala einen Genozid gab und dass die Tragödie im Jugendheim „Hogar Seguro de Maria de Asunción“ (3), bei der 41 Minderjährige ums Leben kamen, das Nichtvorhandensein des Staates belegt.
Warum glaubt die Öffentlichkeit, dass die Menschenrechte die Verbrecher schützen?
Es ist die Sichtweise der Konservativen. Dieses Land ist mehrheitlich konservativ. Im Grunde genommen vertreten sie mit ihrer Sichtweise eine Position gegen die Menschenrechte.
Ist es ein Zyklus, dass immer wieder die Gleichen kommen und gehen?
Es ist kein Zyklus, sie sind nicht gegangen. Seit 1954 sind es die Gleichen, die dieses Land regieren, lenken und ausbeuten.
Welche Interessen verhindern, dass sich das System ändert, obwohl sich die Menschen ändern?
Es sind die Interessen der wirtschaftlich Starken dieses Landes, die Interessen derjenigen 5% der Bevölkerung welche die restlichen 95% beherrschen. Sie benutzen das ganze Land zu ihrem persönlichen wirtschaftlichen Gewinn und dem ihrer Klasse.
Wie kamen Sie in das Amt des Prokurators für Menschenrechte?
Ich amtete als zweiter Prokurator für Menschenrechte (PDH) Guatemalas. Der erste, Ramiro de León Caprio, avancierte durch einen Staatsstreich zum Staatspräsident. Ich wurde sein Nachfolger.
Ich war damals Richter am obersten Verfassungsgericht. Wir hatten eine wichtige Rolle, indem wir die Verfassungswidrigkeit der Übergangsgesetze feststellten, welche der Putschist und neue Präsident Jorge Antonio Serrano, diktierte.
Zu meiner Überraschung besuchten mich Abgeordnete der Kommission für Menschenrechte in meinem Büro am Verfassungsgerichtshof. Sie erklärten mir, dass es im Kongress nur einen Kandidaten für das Amt des PDH gäbe: Nämlich mich. Und sie baten mich das Amt anzunehmen.
Wie war die Situation der Menschenrechte als Sie zum Prokurator gewählt wurden?
Es war schrecklich. Es war eine Zeit, in der es keine grundlegenden Änderungen gab, eine Zeit, in der Militärs und Militärkomissäre die prägende Rolle spielten. Es war meine Aufgabe die ersten geheimen Friedhöfe zu finden.
Wo waren diese geheimen Friedhöfe?
Sie lagen im Gebiet Rabinal am Rio Negro (1). Ich war beauftragt, die beiden ersten geheimen Friedhöfen zu finden und den Exhumationen beizuwohnen, die durch durch das Institut für forensische Anthropologie durchgeführt wuden. Es war die erste Aktion dieser Art, es wurden Dutzende und aber Dutzende von Toten entdeckt.
Und wie kam seither das Thema der Menschenrechte voran?
Allgemein gesprochen: es gab Fortschritte. Wenigstens betreibt die Regierung offiziell keine Politik mehr, welche Menschrechte verletzt, um die Opposition zu bekämpfen.
Verletzungen der Menschenrechte geschehen aber unter anderen Umständen, nicht mehr durch die Politik des Staates. Das ist ein sehr wichtiger Fortschritt, und Schritt im Übergangsprozess von Guatemala.
Woraus bestand die vorherige Politik des Staates?
Wir hatten damals (Anm: vor dem Firedensvertrag von 1996) umfassendes Programm zur Kontrolle der Bevölkerung durch das Militär. Die Extremsten der konservativen Militärs betrieben eine gezielte Verfolgungspolitik der Kommunisten. Unterstützt wurden sie durch einflussreiche Unternehmer, namentlich die Industriellenvereinigung CACIF (5), und die Botschaft der USA. Sie gaben vor, Kommunisten zu verfolgen. Aber im Grunde war es eine Verfolgung der Opposition.
Alle, die die Regierung nicht unterstützten standen unter Generalanklage. Sie mussten unterdrückt und eliminiert werden.
Darauf nehmen Sie Bezug, wenn sie von der Kontrolle der Bevölkerung sprechen?
Exakt. Es war die Unterdrückung der Gegner. Sie führte zu wahrhaftig schrecklichen Ereignissen, wie den Massakern in Xamán, Rio Negro und Dos Erres (6).
Gab es in diesem Land einen Genozid?
Absolut! Daran zweifle ich keinen Moment. Auch Untersuchungen der Vereinten Nationen (7) kamen zum Schluss, dass es in diesem Land zu einem tatsächlichen Genozid gekommen ist.
Welches sind die aktuellen Herausforderungen in Bezug auf die Menschenrechte?
Sie sind umfassend, denn die Garantie der Menschrechte hängt von einem gesellschaftlichen Gleichgewicht ab, von einer Gesellschaft die ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen kann. Es ist weniger die Gesetzgebung oder der Justiz die das Land gerechter und ausgeglichener machen. Vielmehr wäre ein politisches Programm notwendig, um das Land ausgeglichener und gerechter zu organisieren. So, dass alle Bewohner ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse abdecken können.
Glauben Sie, dass man zu spät begonnen hat, über Menschrechte zu sprechen?
Nein. Es wurde immer über das Thema gesprochen, aber wir alle, die damals über Menschenrechte sprachen, wurden als Gegner und politische Feinde betrachtet. Es gab ein generelles Programm das darauf abzielte, uns zu vernichten.
Wer war Ihrer Meinung nach ein guter Prokurator?
In Anbetracht der Umstände, unter welchen er seine Aufgabe zu erfüllen hatte machte der erste Prokurator für Menschenrechte, Ramiro de León Caprio, eine recht gute Arbeit.
Wie begehrt ist das Amt des Prokurators für Menschenrechte heute?
Ja, es ist sehr begehrt. Zu meiner Zeit betrug das Salär 6000 Quetzales plus Repräsentations-Spesen, auf welche alle Funktionäre Anspruch haben. Der heutige Prokurator verdient hingegen mehr als 100’000 Quetzales (ca. CHF 13’500.-/Mt.). In der Folge hat es sich das Ganze zu einem bürokratischen Gewinnspiel entwickelt.
Welches sind die Qualitäten, über die ein Prokurator verfügen sollte?
Zu allererst sollte der PDH über eine unabhängige Persönlichkeit von hoher moralischer Integrität verfügen. Die muss er in verschiedenen Bereichen seines Lebens und in seiner Entwicklung unter Beweis gestellt haben. Dies ist wichtig, weil die Resolutionen des Prokurators Empfehlungen an den Staat darstellen. Der PDH hat die Aufsicht über die Staatsverwaltung. Dies verlangt eine gewisse moralische Autorität in derlei Hinsicht, dass sich die Vita der oder des Gewählten durch grosse moralische Integrität und Legitimität auszeichnet.
Wie beurteilen sie den Fall des Jugendheims „Hogar Seguro Virgen de la Asunción“?
Ich glaube, dass dieser Fall derzeit bearbeitet und gelöst wird. Die Art und Weise, wie Untersuchungen bis zum jetzigen Moment geführt wurden ist dadurch bedingt, dass es zahlreiche Verantwortliche gibt, welche den Fall bearbeiten.
Was bedeutet die Tragödie im „Hogar Seguro Virgen de la Asunción“ für den Staat?
Die Deutung ist sehr ernst: es gibt keinen Staat in diesem Land! Sämtliche Behörden haben sich als absolut inkompetent erwiesen, diesen Fall zu lösen. Nicht nur die Administrativbehörden, sondern auch die Justiz.
Die zuständige Richterin reiste vor Ort, um sich selber eine Bild von den Minderjährigen zu machen. Sie hat ihre Aufgabe erst am darauffolgenden Tag, nach ihrer Rückkehr, wahrgenommen. Diesem Fakt kommt eine schwerwiegende Aussage über den Staat gleich: In Guatemala gibt es keinen real existierenden Staat.
Was denken Sie über die CICIG (8), glauben Sie, dass sie in diesem Land fortbestehen wird?
Ich glaube, die Rolle der CICIG war äusserst wichtig. Hätte es die CICIG nicht gegeben und wäre es nicht die Pflicht der verantwortlichen Funktionäre gewesen, sich dieser Aufgaben anzunehmen, hätten sich viele Dinge in Guatemala nicht geklärt. Zum Beispiel, das Aufdecken der Korruption, welche in diesem Land seit vielen Jahren existiert.
Hoffentlich wird die CICIG noch solange bestehen bis dieses Problem gelöst ist, auch wenn dies es noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.
Wer steckt hinter den Angriffen (9) auf die CICIG, mit dem Ziel die Verfassungsreformen im Bereich der Justiz zu verzögern?
Es ist eine Allianz der konservativen Kräfte des Landes. Im Prinzip eine Allianz der Firmen und Kreise, welche im CACIF zusammengeschlossen sind.
Diese Sektoren der Wirtschaft profitieren sehr stark von der aktuellen Situation im Land. Sie widersetzten sich jeglicher Reform, weil sie über die Kontrolle des Landes verfügen.
Gibt es Abgeordnete, die dieser Allianz angehören?
Die Mehrheit der Abgeordneten gehört dieser Allianz an. Ausserdem verfügen sie über ihre eigenen Parteien, welche ihre Interessen vertreten. Wie auch immer, das muss verändert werden.
Fussnoten
(1) PDH: Procurador de los Derechos Humanos, von Guatemaltekischen Kongress gewählter Ombudsmann für Menschenrechte (–> PDH in Wikipedia (sp))
(2) Regierung Jacobo Arbenz: 1951-1954, der schweizstämmige Arbenz verfolgte eine liberale Politik und trieb weitreichende Landreformen voran. Die Regierung Arbenz wurde 1954 durch konservative Kräfte und das CIA gestürzt und durch eine Militärdiktatur ersetzt. (–> Jacobo Arbenz in Wikipedia (dt))
(3) Hogar Seguro de Maria de Asunción: Jugenheim, in dem bei einer Brandkatastrophe 41 junge Frauen ums Leben kamen (–> Blog Trauer, Wut und Empörung)
(4) Rio Negro: Die Bewohner des Dorfes Rio Negro wehrten sich gegen sein Staudammprojekt. 1982 wurden bei einem Massaker 440 Personen ermordet (– > Río Negro massacres in Wikipedia (en))
(5) CACIF: Industriellenvereinigung Guatemalas, faktisch Zusammenschluss der 8 mächtigste Familien der Oligarchie Guatemalas (–>El CACIF es más influyente que los partidos en el Congreso Artikel der Plaza Publica (sp), Offizielle Webseite)
(6) Xamán, Rio Negro, Dos Erres: Drei der verheerenden Massaker an der indigenen Landbevölkerung, die während des Bürgerkriegs durch das Militär verübt wurden (–> Wikipedia, Massaker von Xamán (dt), Massacre of Rio Negro (en), Massaker von Dos Erres (dt))
(7) CEH: Comisión para el Esclarecimiento Histórico, UNO-Wahrheitskommission (1994 – 1999) (–> Comisión para el Esclarecimiento Histórico (dt)
(8) CICIG: Comisión Internaciónal contra la Impunidad en Guatemala, Internationale Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala. Die CICIG bekämpft die weit verbreitete Straffreiheit in Guatemala und tritt in Menschenrechtsprozessen als Haupt- oder Nebenklägerin auf. (–> Offizielle Webseite (sp/en))
(9) Angriffe auf die CICIG: Die CICIG wird im Kongress durch eine Gruppe von Abgeordneten vehement angegriffen. Sie suchen deren Verfassungsmässigkeit in Frage zu stellen und Gesetze zu verabschieden, die die Arbeit der CICIG erschweren oder gar verunmögliche würden.