Vision Guatemala – «Es ist besser ein kleines Licht anzuzünden, als gegen die Dunkelheit zu schimpfen»

„Vision Guatemala“ verdient Deine Unterstützung!(Angaben zum Spendenkonto am Ende des Beitrags)

Ein Kollege erzählte mir beiläufig, dass es in San Juan am Atitlan See ein tolles Projekt einer jungen Schweizerin gibt. Das interessierte mich und als ich kurz darauf für ein Wochenende an den See und schaute ich vorbei. Es war Sonntag, das Projektbüro geschlossen. Vor dem Haus kam ich mit einem jungen Mann ins Gespräch, der sich als Assistent der Geschäftsleitung zu erkennen gab. In einem Nebensatz fragte er mich, ob ich mit meinem Fachwissen nicht helfen könnte, das Computernetzwerk neu zu installieren. Das Wenige was er mir erzählte überzeugte mich so sehr, dass ich spontan zusagte. So kehrte ich einen Monat später zurück und binnen 2 Wochen installierten wir ein professionelles Netzwerk. Dabei erhielt ich einen tiefen Einbilick in die Arbeit von „Vision Guatemala“. Eine beeindruckende Geschichte, die ich unbedingt teilen möchte:   

Die Schweizerin Nicola Roten gründete vor acht Jahren das Hilfswerk «Vision Guatemala», damals noch als Studentin.
Über die scharfen Kontraste die man in Guatemala antrifft habe ja schon mehrfach geschrieben. Die landschaftliche Schönheit und der Reichtum an natürlichen Ressourcen stehen in krassem Gegensatz zur ökonomischen und sozialen Realität. Das Land wird von einigen wenigen Familien kontrolliert und regelrecht geplündert, während die grosse Mehrheit ums tägliche Überleben kämpft. 68 Prozent der Bevölkerung verfügen über weniger als zwei Franken Tageseinkommen, 2 Millionen müssen sogar mit 50 Rappen pro Tag auskommen. Chronische Mangel- und Fehlernährung, Alkoholismus und eine hohe Kriminalitäts- und Gewaltrate sind die Folgen. Viele junge Frauen werden mit 13, 14 Jahren das erste Mal Mutter; besonders bei den Ärmsten fehlt es an wirksamer Familienplanung. Betroffen ist vor allem die indigene Bevölkerungsmehrheit in den ländlichen Gebieten.

Mit diesen erschreckenden Tatsachen wollte sich die Schweizer Soziologiestudentin Nicola Roten nicht abfinden, als sie vor acht Jahren nach Guatemala kam. Mit Mikrokrediten wollte sie die Eigenständigkeit indigener Frauen und die wirtschaftliche Situation ihrer Familien verbessern. Über die Jahre entstand aus der Idee eine kleine, professionell geführte NGO, die den Teilnehmerinnen auf Augenhöhe begegnet und ihre Selbstermächtigung fördert. Zwölf MitarbeiterInnen bieten unter der Leitung von Nicola Roten ein umfassendes, integriertes Bildungsangebot an. Neben einem Lehrgang für angehende Kleinstunternehmerinnen werden Kurse in Ernährungs- und Gesundheitsfragen und Familienplanung angeboten. Für Kinder und Jugendliche gibt es wöchentlich kreative Lernförderung und kulturelle Bildung, Kunst- und Musikunterricht. Als grosser Erfolg darf gewertet werden, dass seit Kurzem auch Männer an den Angeboten teilnehmen. Keine Selbstverständlichkeit in einer Welt, die immer noch vom Machismo geprägt ist.

Die Zugangsbedingungen zu den Programmen sind streng. Wer seine Motivation überzeugend darlegt, sich verpflichtet die Kurse regelmässig zu besuchen und die gemeinsam vereinbarten Schritte in die Selbständigkeit umsetzt, darf ins fünfjährige Programm einsteigen – ein Drittel der Bewerberinnen. Im ersten Jahr erhalten die Frauen eine unternehmerische Grundausbildung und sie konkretisieren ihre Geschäftsidee. Ein Mikrokredit legt die finanzielle Basis für den Start. Weitere Kredittranchen folgen, wenn Zwischenziele erreicht werden. Sie ermöglichen den Ausbau des Geschäfts, so dass die Unternehmerin nach drei bis vier Jahren mit einem kleinen aber stabilen Unternehmen auf eigenen Füssen steht. Während der ganzen Zeit unterstützen sich die Teilnehmerinnen gegenseitig und werden durch das Team von Vision Guatemala intensiv begleitet.

Bereits haben über 300 Familien dank des Programms eine stabile materielle Basis erhalten und weitere 50 Mütter, angehende Unternehmerinnen, sind auf dem besten Weg die Lebensbedingungen und Chancen für ihre Familien und Kinder nachhaltig zu verbessern.

Die dauerhafte Verbesserung der Lebensumstände und Stärkung der Eigenständigkeit bleibt das zentrale Anliegen von Vision Guatemala. Deshalb begleitet das junge Team auch verschiedene Produktionsprojekte. Sie sichern Arbeit und Einkommen innerhalb der Gemeinde und erlauben es aktuelle Probleme und Herausforderungen im Kontext anzugehen. Längerfristig sollen sie aber auch der Organisation ein finanzielles Standbein sichern. Dieser Prozess braucht Zeit. Keine langfristige Entwicklung ohne langfristige finanzielle Sicherheit. Deshalb ist Vision Guatemala auf regelmässige Spenden angewiesen.

Weitere Information: www.vision-guatemala.org

Spendenkonto: Postkonto 85-633420-5 IBAN CH26 0900 0000 8563 3420 5

Die Organisation ist in der Schweiz als gemeinnütziger Verein anerkannt, Spenden können steuerlich geltend gemacht werden.

Angelica Choc: „Am eigenen Körper habe ich den Schmerz erfahren. Und genau so wie ich leidet Mutter Erde, wenn wir sie ihrer Ressourcen berauben.“

Angelica Choc ist eine mutige, kraftvolle und charismatische Leaderin. Eine Frau, die mit Herz und Tat  für ihre Rechte und die Rechte der indigenen Gemeinschaften einsteht.

Trotz des niederschmetternden Gerichtsurteils vom 6. April, das den mutmasslichen Mörder ihres Mannes auf freien Fuss setzte, lud sie wenige Tage später, am internationalen Tag von „Madre Tierra“ und Geburtstag ihres Mannes, zu einem Dank- und Gedenkfest. Sie setzte damit ein kraftvolles Zeichen gegen das Unrecht und bestärkte die indigenen Dorfgemeinschaften im Kampf um ihre legitimen Rechte.

 „Nein – es ist keine Niederlage! Die Richterin genoss unser Leiden. Sie stand auf der Seite des Unternehmens. Wir haben während Jahren Zeugnis abgelegt. Es erging uns wie den indigenen Gemeinschaften, wir wurden nicht gehört!

Was Mutter Erde erleidet, müssen auch wir ertragen. Wir wollen unentwegt weiter eintreten für unser Recht auf Leben. Wir lassen uns nicht auseinander dividieren. Denn genau das ist es,  wollen sie wollen! Uns entmutigen und sie hoffen darauf, dass wir aufgeben.“
Angelica Choc

Am 6. April 2017 wurde ihrem getöten Mann, Adolfo Ich und German Chub, der gleichentags angeschossen wurde und seither gelähmt ist, die ersehnte Gerechtigkeit verweigert.  Nach jahrelangem, rechtsstaatlich fragwürdigem Prozess sprach eine Einzelrichterin den mutmasslichen Mörder frei und setzte ihn umgehend auf freien Fuss, lange bevor das Urteil rechtskräftig ist. Sie drehte sogar den Spiess um, und beauftragte die Staatsanwaltschaft, ein Verfahren wegen falscher Zeugenaussage und Irreführung der Rechtspflege zu eröffnen. Ein absoluter Tiefschlag für Angelica Choc und German Chub. Das Urteil hat Sprengkraft. Es droht, die Dorfgemeinschaften, die sich für ihre Rechte einsetzen, zu entzweien und zu entmutigen, deren Einheit und Entschlossenheit zu brechen.

Wenige Tage nach diesem Tiefschlag, und obwohl gesundheitlich angeschlagen, lud Angelica am 22. April 2017 zu einem grossen Dank- und Gedenkfest in ihr Haus. Ein symbolträchtiger Tag. Es ist der internationale Tag von „Madre Tierra“ und der Geburtstag ihres ermordeten Ehemannes, der an diesem Tag 59 Jahre alt geworden wäre.

Rund hundert Personen, Repräsentanten und Repräsentantinnen von 10 Dorfgemeinschaften, Vertreterinnen und Vertreter von internationalen Organisationen und die Anwälte, die den Fall in Kanada vertreten, folgten der Einladung. Wir von ACOGUATE durften diesen denkwürdigen Tag begleiten.

Zu Beginn versammelten sich die Frauen von Lote Ocho und Angelica vor dem Altar, den Angelica zur Ehre von Mutter Erde und im Gedenken an ihren Mann in ihrem Haus hergerichtet hatte. Ein ergreifender Moment. Die Kraft der Gemeinschaft  und der Schmerz über das erlittene Unrecht füllten den Raum. Die indigenen Frauen von Lote Ocho wurden 2007 durch eine Massenvergewaltigung verletzt  und gedemütigt. Sie wehrten sich für ihre Rechte und gegen die Vertreibung durch die Minengesellschaft.

Später, wieder im Freien, traten reihum die 10 Vertreter und Vertreterinnen der Dorfgemeinschaften ans Mikrophon. Mit würdigen Worten benannten sie den Kampf, den ihre Gemeinschaft führt und bekräftigten das Versprechen, zusammen zu stehen und sich gemeinsam weiter für ihre Rechte einzusetzen. Besonders still wurde es, als Maria Caal das Wort ergreift. Sie hatte während dem Bürgerkrieg ihren Mann und die ganze Familie verloren. Mit kraftvollen, sanften Worten erinnert sie an die grausame Geschichte und an die Bedeutung des Kampfes. Sie schliesst mit den Worten: „Wir haben keine Angst! Gott begleitet unseren Kampf!“ Worte die nachklingen und haften bleiben. Ramiro, Angelicas Bruder beschliesst den weltlichen Teil der Feier mit den Worten: „Der Kampf geht weiter, sie haben uns nicht geschlagen. Der Ruf von Mutter Erde behält die Oberhand“. Es ist still, ich spüre dass er den Menschen aus dem Herzen gesprochen hat.

Zum Fest waren auch 5 Maya Priesterinnen und Mayapriester geladen. Gemeinsam gestalteten Sie den spirituellen Teil der Feier. Die Opfergaben auf dem Altar wurden gesegnet und dann zum Steinkreis im Freien getragen. In einer rituellen Handlung, deren tiefere Symbolik ich nur ansatzweise verstehe, gestalten sie in der Mitte des Steinkreises den Kosmos der Maya, Symbole für die vier Himmelsrichtungen, Himmel, Erde, Wasser und Luft. Mais, Weihrauch, Nahrungsmittel und Getränke werden niedergelegt und anschliessend dem Feuer übergeben. Unablässig werden Gebete gesprochen. Für mich war der berührendste Moment, als sich alle Anwesenden zur Anrufung der Kräfte in die vier Himmelsrichtungen ausrichteten. Der Moment, in dem die tiefe Verbundenheit des Maya Weltbildes mit der Natur zum Ausdruck kam. Zum Abschluss segneten die Priester und Priesterinnen die Hauptakteure und baten um Schutz und Kraft für den beschwerlichen und zeitweise gefährlichen Weg.

Der Tag wurde mit einem grossen Festmahl beschlossen. Das Mahl in Gemeinschaft, im wortwörtlichen Sinn nährend, für jeden Einzelnen und die Gemeinschaft. Später erklärte uns Angelica, dass auch die Speisen, die an diesem Tag gereicht wurden, eine tiefe Bedeutung haben.

Ich bin sehr dankbar, dass ich an diesem Tag beiwohnen durfte. Ich ziehe von Angelica für Ihre Unerschrockenheit, Ausdauer und die Gabe, WeggefährtInnen zu einen, den Hut.

Hintergründe zum Fall

Seit mehr als als 15 Jahren führt Angelica einen gewaltlosen Kampf gegen die nahe gelegene Nickelmine, welche das Wassers des Izabal Sees vergiftet und indigene Dorfgemeinschaften vom Land ihrer Väter und Mütter vertreibt an. Ein entschlossener Kampf, den ihr Mann mit dem Leben bezahlte. Er wurde 2009 durch Sicherheitskräfte der Nickelmine (CGN, Compañia Guatemalteca de Níquel) erschossen. Seither sucht Angelica Gerechtigkeit vor Guatemaltekischen und Kanadischen Gerichten.

Mit internationaler Unterstützung konnten Angelica Choc, German Chub und die indigenen Frauen von Lote Ocho, vor einem kanadischen Gericht erste Erfolge erringen. In einem wegweisenden Urteil anerkannte das kanadisches Gericht die Mitverantwortung der (damaligen) kanadischen Eigentümerin der Mine, hudbay Minerals, und trat auf die Klagen der Opfer ein.  Derzeit läuft der Zivilprozess gegen Hudbay Minerals noch. Ein Schuldspruch käme einem Dammbruch und Meilenstein im Kampf gegen die vermeintliche „Immunität“ der  Konzerne  in Schwellenländern gleich.
Während man in Kanada hoffen darf, bleibt Angelica und German die ersehnte „Gerechtigkeit“ in Guatemala vorerst verwehrt. Mit einem vernichtenden Urteil sprach eine Einzelrichterin Anfang April den mutmasslichen Täter frei und setzte ihn gleichentags, bevor das Urteil rechtskräftig wurde (!!), auf freien Fuss.

Das Unheil zeichnete sich seit länger Zeit ab. Ermittlungen wurden schlampig geführt und der Prozess wurde unerträglich in die Länge gezogen. Die Richterin wies von der Anklage vorgebrachte Beweise mit fadenscheinigen Begründungen zurück und übernahm die Sichtweise der Verteidigung des mutmasslichen Täters weitgehend.  Anfangs Februar 2016 wurde dann, angeblich zum Schutz der Opfer,  die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen. Dies, obwohl sowohl die Opfer als auch die Nebenkläger ausdrücklich auf einer öffentlichen Verhandlung bestanden. Mit diesem Entscheid wurde die rechtsstaatliche Legitimation des Prozesses endgültig ad absurdum geführt. Seit der mutmassliche Mörder am 6. April auf freien Fuss gesetzt war, wurde er nicht mehr gesehen. Der Verdacht, dass er sich für den  Fall einer Appellation, welche sehr wahrscheinlich ist, erneut durch Flucht ins Ausland der Justiz zu entziehen versucht, ist mehr als naheliegend. Auch die Vermutung von einigen Beteiligten, dass Bestechung im Spiel ist, ist angesichts der Fakten nicht von der Hand zu weisen, obwohl sich bisher nichts derartiges beweisen lässt.

Der Fall Maynor Padilla  – Rassendiskriminierung

Die Frauen von Lote Ocho

Jorge Maria García Laguardia: „Die Tragödie von Hogar Seguro Maria Asunción beweist, dass es in diesem Land keinen Staat gibt“

Jorge Maria García Laguardia, war ehemals Präsident des Guatemaltekischen Verfassungsgerichtes und 1993 – 1997 einer der ersten Prokuratoren für Menschenrechte (PDH) (1) in Guatemala.
Dieses Interview erschien am 17. April 2017,in der Prensa Libre, der grössten und wichtigsten Tageszeitung Guatemalas. Es zeichnet meines Erachtens ein gutes Bild von der aktuellen Situation und der jüngsten Geschichte Guatemalas, und leistet einen guten Beitrag, um dieses vielschichtige Land besser zu verstehen.
Zum besseren Verständnis des Kontextes habe ich den Text durch erklärende Fussnoten ergänzt. Das Originalinterview in spanischer Sprache ist auf der Webseite von Prensa Libre nachzulesen.
Im Gespräch vertritt Jorge Maria García Laguardia die Meinung, dass 5% der Bevölkerung die übrigen Guatemaltekinnen und Guatemalteken beherrschen. Und er erinnert daran, wie seit dem Sturz der Regierung von Jacobo Arbenz (2) eine Gruppe von „Konservativen“ half, damit sich Militärs und Industrielle an den Schalthebeln der Macht festsetzen konnten.
Jorge Maria García, ist der Ansicht,  dass es in Guatemala einen Genozid gab und dass die Tragödie im Jugendheim „Hogar Seguro de Maria de Asunción“ (3), bei der 41 Minderjährige ums Leben kamen, das Nichtvorhandensein des Staates belegt.

Warum glaubt die Öffentlichkeit, dass die Menschenrechte die Verbrecher schützen?

Es ist die Sichtweise der Konservativen. Dieses Land ist mehrheitlich konservativ. Im Grunde genommen vertreten sie mit ihrer Sichtweise eine Position gegen die Menschenrechte.

Ist es ein Zyklus, dass immer wieder die Gleichen kommen und gehen?

Es ist kein Zyklus, sie sind nicht gegangen. Seit 1954 sind es die Gleichen, die dieses Land regieren, lenken und ausbeuten.

Welche Interessen verhindern, dass sich das System ändert, obwohl sich die Menschen ändern?

 Es sind die Interessen der wirtschaftlich Starken dieses Landes, die Interessen derjenigen 5% der Bevölkerung welche die restlichen 95% beherrschen. Sie benutzen das ganze Land zu ihrem persönlichen wirtschaftlichen Gewinn und dem ihrer Klasse.

Wie kamen Sie in das Amt des Prokurators für Menschenrechte?

Ich amtete als zweiter Prokurator für Menschenrechte (PDH) Guatemalas. Der erste, Ramiro de León Caprio, avancierte durch einen Staatsstreich zum Staatspräsident. Ich wurde sein Nachfolger.

Ich war damals Richter am obersten Verfassungsgericht. Wir hatten eine wichtige Rolle, indem wir die Verfassungswidrigkeit der Übergangsgesetze feststellten, welche der Putschist und neue Präsident Jorge Antonio Serrano, diktierte.

Zu meiner Überraschung besuchten mich Abgeordnete der Kommission für Menschenrechte in meinem Büro am Verfassungsgerichtshof. Sie erklärten mir, dass es im Kongress nur einen Kandidaten für das Amt des PDH gäbe: Nämlich mich. Und sie baten mich das Amt anzunehmen.

Wie war die Situation der Menschenrechte als Sie zum Prokurator gewählt wurden?

 Es war schrecklich. Es war eine Zeit, in der es keine grundlegenden Änderungen gab, eine Zeit, in der Militärs und Militärkomissäre die prägende Rolle spielten. Es war meine Aufgabe die ersten geheimen Friedhöfe zu finden.

Wo waren diese geheimen Friedhöfe?

 Sie lagen im Gebiet Rabinal am Rio Negro (1). Ich war beauftragt, die beiden ersten geheimen Friedhöfen zu finden und den Exhumationen beizuwohnen, die durch durch das Institut für forensische Anthropologie durchgeführt wuden. Es war die erste Aktion dieser Art, es wurden Dutzende und aber Dutzende von Toten entdeckt.

Und wie kam seither das Thema der Menschenrechte voran?

 Allgemein gesprochen: es gab Fortschritte. Wenigstens betreibt die Regierung offiziell keine Politik mehr, welche Menschrechte verletzt, um die Opposition zu bekämpfen.

Verletzungen der Menschenrechte geschehen aber unter anderen Umständen, nicht mehr durch die Politik des Staates. Das ist ein sehr wichtiger Fortschritt, und Schritt im Übergangsprozess von Guatemala.

Woraus bestand die vorherige Politik des Staates?

Wir hatten damals (Anm: vor dem Firedensvertrag von 1996) umfassendes Programm zur Kontrolle der Bevölkerung durch das Militär. Die Extremsten der konservativen Militärs betrieben eine gezielte Verfolgungspolitik der Kommunisten. Unterstützt wurden sie durch einflussreiche Unternehmer, namentlich die Industriellenvereinigung CACIF (5), und die Botschaft der USA. Sie gaben vor, Kommunisten zu verfolgen. Aber im Grunde war es eine Verfolgung der Opposition.

Alle, die die Regierung nicht unterstützten standen unter Generalanklage. Sie mussten unterdrückt und eliminiert werden.

Darauf nehmen Sie Bezug, wenn sie von der Kontrolle der Bevölkerung sprechen?

Exakt. Es war die Unterdrückung der Gegner. Sie führte zu wahrhaftig schrecklichen Ereignissen, wie den Massakern in Xamán, Rio Negro und Dos Erres (6).

Gab es in diesem Land einen Genozid?

Absolut! Daran zweifle ich keinen Moment. Auch Untersuchungen der Vereinten Nationen (7) kamen zum Schluss, dass es in diesem Land zu einem tatsächlichen Genozid gekommen ist.

Welches sind die aktuellen Herausforderungen in Bezug auf die Menschenrechte?

 Sie sind umfassend, denn die Garantie der Menschrechte hängt von einem gesellschaftlichen Gleichgewicht ab, von einer Gesellschaft die ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen kann. Es ist weniger die Gesetzgebung oder der Justiz die das Land gerechter und ausgeglichener machen. Vielmehr wäre ein politisches Programm notwendig, um das Land ausgeglichener und gerechter zu organisieren. So, dass alle Bewohner ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse abdecken können.

Glauben Sie, dass man zu spät begonnen hat, über Menschrechte zu sprechen?

Nein. Es wurde immer über das Thema gesprochen, aber wir alle, die damals über Menschenrechte sprachen, wurden als Gegner und politische Feinde betrachtet. Es gab ein generelles Programm das darauf abzielte, uns zu vernichten.

Wer war Ihrer Meinung nach ein guter Prokurator?

 In Anbetracht der Umstände, unter welchen er seine Aufgabe zu erfüllen hatte machte der erste Prokurator für Menschenrechte, Ramiro de León Caprio, eine recht gute Arbeit.

Wie begehrt ist das Amt des Prokurators für Menschenrechte heute?

Ja, es ist sehr begehrt. Zu meiner Zeit betrug das Salär 6000 Quetzales plus Repräsentations-Spesen, auf welche alle Funktionäre Anspruch haben. Der heutige Prokurator verdient hingegen mehr als 100’000 Quetzales (ca. CHF 13’500.-/Mt.). In der Folge hat es sich das Ganze zu einem bürokratischen Gewinnspiel entwickelt.

Welches sind die Qualitäten, über die ein Prokurator verfügen sollte?

Zu allererst sollte der PDH über eine unabhängige Persönlichkeit von hoher moralischer Integrität verfügen. Die muss er in verschiedenen Bereichen seines Lebens und in seiner Entwicklung unter Beweis gestellt haben. Dies ist wichtig, weil die Resolutionen des Prokurators Empfehlungen an den Staat darstellen. Der PDH hat die Aufsicht über die Staatsverwaltung. Dies verlangt eine gewisse moralische Autorität in derlei Hinsicht, dass sich die Vita der oder des Gewählten durch grosse moralische Integrität und Legitimität auszeichnet.

Wie beurteilen sie den Fall des Jugendheims „Hogar Seguro Virgen de la Asunción“?

Ich glaube, dass dieser Fall derzeit bearbeitet und gelöst wird. Die Art und Weise, wie Untersuchungen bis zum jetzigen Moment geführt wurden ist dadurch bedingt, dass es zahlreiche Verantwortliche gibt, welche den Fall bearbeiten.

Was bedeutet die Tragödie im „Hogar Seguro Virgen de la Asunción“ für den Staat?

 Die Deutung ist sehr ernst: es gibt keinen Staat in diesem Land! Sämtliche Behörden haben sich als absolut inkompetent erwiesen, diesen Fall zu lösen. Nicht nur die Administrativbehörden, sondern auch die Justiz.

Die zuständige Richterin reiste vor Ort, um sich selber eine Bild von den Minderjährigen zu machen. Sie hat ihre Aufgabe erst am darauffolgenden Tag, nach ihrer Rückkehr, wahrgenommen. Diesem Fakt kommt eine schwerwiegende Aussage über den Staat gleich: In Guatemala gibt es keinen real existierenden Staat.

Was denken Sie über die CICIG (8), glauben Sie, dass sie in diesem Land fortbestehen wird?

 Ich glaube, die Rolle der CICIG war äusserst wichtig. Hätte es die CICIG nicht gegeben und wäre es nicht die Pflicht der verantwortlichen Funktionäre gewesen, sich dieser Aufgaben anzunehmen, hätten sich viele Dinge in Guatemala nicht geklärt. Zum Beispiel, das Aufdecken der Korruption, welche in diesem Land seit vielen Jahren existiert.

Hoffentlich wird die CICIG  noch solange bestehen bis dieses Problem gelöst ist, auch wenn dies es noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.

Wer steckt hinter den Angriffen (9) auf die CICIG, mit dem Ziel die Verfassungsreformen im Bereich der Justiz zu verzögern?

Es ist eine Allianz der konservativen Kräfte des Landes. Im Prinzip eine Allianz der Firmen und Kreise, welche im CACIF zusammengeschlossen sind.

Diese Sektoren der Wirtschaft profitieren sehr stark von der aktuellen Situation im Land. Sie widersetzten sich jeglicher Reform, weil sie über die Kontrolle des Landes verfügen.

Gibt es Abgeordnete, die dieser Allianz angehören?

Die Mehrheit der Abgeordneten gehört dieser Allianz an. Ausserdem verfügen sie über ihre eigenen Parteien, welche ihre Interessen vertreten. Wie auch immer, das muss verändert werden.


Fussnoten

(1) PDH: Procurador de los Derechos Humanos, von Guatemaltekischen Kongress gewählter Ombudsmann für Menschenrechte (–> PDH in Wikipedia (sp))

(2) Regierung Jacobo Arbenz: 1951-1954, der schweizstämmige Arbenz verfolgte eine liberale Politik und trieb weitreichende Landreformen voran. Die Regierung Arbenz wurde 1954 durch konservative Kräfte und das CIA gestürzt und durch eine Militärdiktatur ersetzt. (–> Jacobo Arbenz in Wikipedia (dt))

(3) Hogar Seguro de Maria de Asunción: Jugenheim, in dem bei einer Brandkatastrophe 41 junge Frauen ums Leben kamen (–> Blog Trauer, Wut und Empörung)

(4) Rio Negro: Die Bewohner des Dorfes Rio Negro wehrten sich gegen sein Staudammprojekt.  1982 wurden bei einem Massaker 440 Personen ermordet (– > Río Negro massacres in Wikipedia (en))

(5) CACIF: Industriellenvereinigung Guatemalas, faktisch Zusammenschluss der 8 mächtigste Familien der Oligarchie Guatemalas (–>El CACIF es más influyente que los partidos en el Congreso Artikel der Plaza Publica (sp), Offizielle Webseite)

(6) Xamán, Rio Negro, Dos Erres: Drei der verheerenden Massaker an der indigenen Landbevölkerung, die während des Bürgerkriegs durch das Militär verübt wurden (–> Wikipedia, Massaker von Xamán (dt), Massacre of Rio Negro (en), Massaker von Dos Erres (dt))

(7) CEH: Comisión para el Esclarecimiento Histórico, UNO-Wahrheitskommission (1994 – 1999) (–> Comisión para el Esclarecimiento Histórico (dt)

(8) CICIG: Comisión Internaciónal contra la Impunidad en Guatemala, Internationale Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala. Die CICIG bekämpft die weit verbreitete Straffreiheit in Guatemala und tritt in Menschenrechtsprozessen als Haupt- oder Nebenklägerin auf. (–> Offizielle Webseite (sp/en))

(9) Angriffe auf die CICIG: Die CICIG wird im Kongress durch eine Gruppe von Abgeordneten vehement angegriffen. Sie suchen deren Verfassungsmässigkeit in Frage zu stellen und Gesetze zu verabschieden, die die Arbeit der CICIG erschweren oder gar verunmögliche würden.

Archivo Historico de la Policia Nacional: Erinnern um nicht zu Wiederholen!

„Es ist wichtig, dass wir verstehen warum wir Guatemalteken so sind, wie wir sind!“
Gustavo Meoño Direktor des Archivo Historico de la Policia Nacional

Am 25. März besuchten wir zum Abschluss unserer Ausbildung bei Acoguate das Archivo  Historico de la Policia Nacional (AHPN).  Der Besuch hat mich berührt. Trotz des unfassbaren Ausmasses der Gräuel ist das Archiv ein Ort der Hoffnung und Versöhnung, weil es Tausenden von Opfern Gesicht und Namen zurückgibt.

Licht ins Dunkel – das verschollene Archiv taucht auf

In seinen 36 Jahren forderte der „Conflicto Armado“ mehr als 200’000 Opfer und eine Million Menschen wurden vertrieben. 45’000 Menschen sind „spurlos“ verschwunden. Entführt, verschleppt, gefoltert, ermordet. Entstellt wurden sie in Massengräbern verscharrt oder einfach auf die die Strasse geworfen. Laut dem Bericht der internationalen Wahrheitskommission sind 93% der Opfer durch den Staat, Militär, Polizei und Geheimkommandos zu verantworten, wogegen lediglich 3% der Verbrechen durch die Guerilleros verübt wurden.

Wegen schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beteiligung am Staatsterror wurde 1996, als Bestandteil des Friedensabkommen, die Policia Nacional   aufgelöst. Doch einflussreiche Kreise  widersetzten sich der historischen Aufarbeitung des Grauens. Hartnäckig wurde die Existenz eines Archivs, das die Vorfälle belegt hätte, bestritten. Im Juli 2005 brachte ein Zufallsfund Licht ins Dunkel und alle Beteuerungen wurden als glatte Lügen entlarvt.

Auf der Suche nach Sprengmitteln und Munition besuchte der Prokurator für Menschenrechte am 5. Juli 2005 ein aufgegebenes Polizeigebäude in Guatemala City. Durch die Fenster erkannte er riesige Mengen von Dokumenten, die sich auf Nachfrage als das verschollene Archiv der Nationalen Polizei entpuppten. Im halb zerfallenen Gebäude lagerten über 80 Mio. Dokumente  (ein Stapel von ca. 8000m Länge). Hingeworfen wie Abfall, der Feuchtigkeit, dem Verfall  und den Ratten preisgegeben. Schnell erkannte der Prokurator die gesellschaftliche und historische Bedeutung des Fundes und er wurde sich bewusst, dass das Archiv, nun einmal entdeckt, akut gefährdet war, vernichtet zu werden. Geistesgegenwärtig alarmierte er die Schweizerische und Schwedische Botschaft die den Fund bezeugten.

Dass die Oligarchie keine Freude am Archiv hat, belegt die Tatsache, dass die Militärs  trotz mehrfacher Aufforderung durch die Wahrheitskommision und die CICIG (Internationale Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala) ihre Archive bis heute geheim halten konnten. Auch  erhält das AHPN keinen Quetzal aus der Staatskasse zur Finanzierung seiner Arbeit. Die Instandstellung von Gebäuden und Infrastruktur, die Sicherung, Archivierung und Katalogisierung der Dokumente wird mehrheitlich durch europäische Staaten, namentlich auch die Schweiz, finanziert. Zudem fungiert die Schweiz als Schutzmacht für das Archiv. Um das historische Gewissen vor „zufälliger“ Zerstörung zu schützen, holen Mitarbeiter der Schweizer Botschaft alle drei Monate Kopien der neu erfassten Dokumente ab und bringen sie auf diplomatischen Weg in die Schweiz. Dort werden sie sicher verwahrt und sind vor unautorisiertem Zugriff geschützt. Bisher wurden 20 Mio. Dokumente gescannt, katalogisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Erinnern, Verstehen, Versöhnen

„Ich glaube, das Wichtigste ist, dass kommende Generationen die historische Wahrheit kennen. Weder ist es möglich, das Geschehene vor ihnen zu verstecken, noch können wir ihnen Teilwahrheiten zu präsentieren. Ich glaube, dass sie diesen historischen Abschnitt der Geschichte kennen müssen!
Mit welchem Ziel? – Etwa weil wir Masochisten sind? – Nein!  Ganz einfach deshalb, damit sich die Geschichte nicht wiederholt!“

Aquiles Linares Morales, Stv. Richter am Tribunal Supremo Electoral (Bruder von Sergio Saul Linares, verhaftet und ermordet im März 1984)

Das APHN ist ein Eckpfeiler bei der Aufarbeitung der Geschichte und im Friedens- und Versöhnungsprozess, der auch 20 Jahre nach dem Friedensvertrag noch nicht abgeschlossen ist.

In seiner Art ist das AHPN das grösste öffentlich zugängliche Archiv Lateinamerikas. Es dokumentiert die Arbeit der Nationalpolizei von ihrer Gründung im Jahre 1882 bis zu ihrer Auflösung  im Jahre 1996. Seine Informationen können helfen, das moderne Guatemala vor dem Hintergrund seiner Geschichte zu verstehen. 31,7 Mio. Dokumente belegen die „Arbeit“ der National-Polizei bis ins Detail. Sie belegen Arbeitsweise und Befehlsketten. Von einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung wurden Fichen erstellt. Sie bezeugen das Schicksal derer, die ausspioniert, verhaftet, verschleppt, gefoltert und ermordet wurden.

Heute ist das Archiv öffentlich zugänglich und die Mitarbeiter des AHPN unterstützen Überlebende und Angehörige bei der Spurensuche. Endlich haben sie die Möglichkeit, sich Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen zu verschaffen. Ungewissheit kann sich wandeln und das Unfassbare erhält ein Gesicht. Schmerz, Trauer und Ohnmacht erhalten den Boden, den es braucht, um die Geschichte abschliessen zu können.

Die öffentliche Anerkennung der Verbrechen und deren Ahndung in fairen Prozessen sind wichtige Aspekte bei der Bewältigung der Vergangenheit.

Bis zur Entdeckung des Archivs sahen sich Staatsanwälte mit einer Mauer des Schweigens konfrontiert. Das Fehlen von Beweisen schränkte ihren Handlungsspielraum massiv ein. Nun schlägt das Archiv eine Bresche. Die Täter können sich nicht mehr länger leugnen, Zeugen diskreditieren oder Fakten verdrehen. Endlich kann mit schwarz auf weiss belegt werden, was Augenzeugen längst berichteten.

Bis zum heutigenTag stellten Angehörige und Staatsanwaltschaft insgesamt über 11’000 Auskunftsbegehren und rund 240’000 Dokumente wurden ausgeliefert. Einige dieser Dokumente wurden zu Schlüsselbeweisstücken in wegweisenden Prozessen.

Das Archiv ein Vermächtnis an die Jugend und die Indigenen

Das Archiv dokumentiert den wohl schmerzvollsten Teil der Guatemaltekischen Geschichte. 80 Millionen Dokumente machen es unmöglich, diese zu leugnen oder umzudeuten: weder den Genozid an der indigenen Landbevölkerung, den Frauen, den Linken und den Intellektuellen, noch das Mitwirken der staatlichen Organe.

Weiterführende Information

Keep your eyes on Guatemala Dokumentarfilm über das AHPN (Spanisch / Englisch)
La Isla: Archivo de una tragedia Dokumentarfilm über das AHPN in seinem historischen Kontext (Spanisch)

Offizielle Webseite des AHPN: www.archivohistoricopn.org  (Spanisch)
Onlinearchiv und Webseite der University of Texas:  https://ahpn.lib.utexas.edu (Englisch/Spanisch)

 

 

 

 

 

 

 

 

Trauer, Wut und Empörung

In vergangen Monat bewegte die Katastrophe in einem Jugendheim die Menschen in Guatemala. Eingeschlossen in der Aula, den Flammen wissentlich ausgeliefert, fanden 40 junge Frauen einen qualvollen Tod.

Frauenorganisationen und betroffene Menschen riefen zu Anteilnahme und Protest auf. Tausende versammelten sich auf der Plaza de Constitución. Ein Blumenmeer und brennenden Kerzen bezeugen immer noch Anteilnahme und Solidarität mit dem Opfern und ihren Angehörigen. Und sie klagen an! Die notorischen Missstände und Korruption im Staat sowie Sexismus und Rassismus in der Gesellschaft.

Das Gedenken vor dem Parlamentsgebäude war nicht nur Ausdruck der Trauer und des Schmerzes sondern auch Zeichen von Wut und Empörung. Zwei Wochen lang kehrten jeden Abend Menschen zurück um zu gedenken. Sie fordern Sühne für die Opfer, Justiz für die Verantwortlichen und den Rücktritt der verantwortlichen Politiker.

Nach der Katastrophe klingt der Name des Heims, „Hogar Seguro Virgen de la Asunción“- „Sicheres Heim Maria Himmelfahrt“, wie blanker Hohn. Das Heim sollte ein sicherer Ort für Jugendliche sein, welcher sie vor Gewalt, Vernachlässigung und Übergriffen schützt. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein.  Nach der Katastrophe publizierten die Zeitungen jeden Tag neue erschreckende Details. Sie zeichneten ein düsteres Bild von den Zuständen im Heim, der Schlamperei und Ignoranz der Behörden. Schwere Verletzungen der Menschenrechte, körperliche und psychische Gewalt scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein. Lebensumstände und Ernährung waren prekär und zahlreiche der jungen Frauen erlitten sexuelle Übergriffe. Dutzende von Anzeigen brachten die Vorfälle den Verantwortlichen zur Kenntnis. Im letzten Jahr verfügte schliesslich ein Gericht die Schliessung des Heims, eine grundlegende Reformation des Vollzugs und die Entlassung des fehlbaren Personals. Doch das verantwortliche Sekretariat für Soziale Wohlfahrt (Secretaría de Bienestar Social SBS) ignorierte das Urteil.  Es änderte sich nichts, bis es am 8. März zur Katastrophe kam.

Die Zeitung „El Periodico“ rekonstruierte anhand von Zeugenaussagen die Ereignisse.  Unhaltbare Lebensbedingungen, permanente Gewalt und Übergriffe provozierten  hochexplosives Klima im Heim. Bewohnerinnen, Bewohner und Aufsichtspersonal waren regelrecht verfeindet. Am 7. März kam es zur Revolte, in deren Verlauf 100 Jugendliche türmten.  Mit Hilfe der Polizei wurden die Jugendlichen schnell wieder eingefangen und nach Geschlechtern getrennt eingesperrt. Zeugen berichten, dass es bei dieser Aktion zu massiver Gewalt, Erniedrigung und sexuellen Übergriffen kam.

Die Frauen wurden in der Aula eingesperrt. Als ihnen der Gang zur Toilette verweigert wurde machten sie mit Matratzen einen Sichtschutz. Später zündeten sie diesen an. Schnell breitete sich das Feuer aus und die verschlossenen Türen machten die Aula zum todbringenden Gefängnis. Aufgeschreckt durch die Schreie brachen die jungen Männer die Türe ihres „Gefängnisses“ auf und eilten den Mädchen zur Hilfe. Die stationierte Polizei vereitelte den Versuch und drängte sie zurück in die Unterkunft. „Wenn sie türmen können, werden sie wohl auch etwas Wärme aushalten“ soll ihnen eine Beamter entgegen geschmettert haben. Doch die Türen blieben verschlossen. Das Verbrechen kostete jungen 40 Frauen zwischen 14 und 17 das Leben, zahlreiche weitere erlitten schwerste Verbrennungen.

In der Zwischenzeit sitzen die Verantwortlichen in Haft und die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen vorsätzlicher Tötung und unterlassender Hilfeleistung.

Dass 40 junge Frauen in einer Katastrophe, die leicht hätte verhindert werden können, ihr Leben lassen, wirft grosse Fragen auf, Fragen nicht nur über den Staat und seine Institutionen, sondern auch über Rassismus und Sexismus in der Gesellschaft. Meines Erachtens fragt der Kommentator von „El Periodico“ zu recht nach der Zukunft eines Staates, der das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger nicht zu schützen vermag.

Der Aufschrei der Massen vor dem Parlamentsgebäude ist jedoch auch ein Zeichen der Hoffnung.  Bleibt zu hoffen, dass er gehört wird und die Justiz wenigstens im Nachhinein den Opfern zu ihrem Recht verhilft.

 

 

 

 

Angekommen!

Nun lebe ich seit 7 Wochen in Guatemala. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte mir vorgestellt in ein warmes, grünes Land zu reisen. Das Gegenteil traf ein. Das Hochland um Quetzeltenango, wo ich die ersten Wochen verbrachte, zeigt sich zu dieser Jahreszeit braun, ausgedorrt und mit sehr erfrischenden Temperaturen.

Doch die Freundlichkeit und Höflichkeit der Menschen in Xela, so heisst die Stadt in der Sprache der indigenen Einheimischen, hat mich sehr berührt. In einer Stadt mit über 200’000 Menschen grüsst man sich auf der Strasse! Was für ein Widerspruch  zur verdeckten und offenen Gewalt, welche das Leben der Guatemaltekinnen und Guatemalteken auch prägt.

Am  PLQ (Proyecto Lingüístico Quetzaltenango) büffelte ich nicht nur Grammatik und Vokabeln. Die Zeit war eine ideale Vorbereitung auf den kommenden Einsatz mit Acoguate. Das PLQ wurde 1988, noch während dem blutigen Bürgerkrieg, von einem Kollektiv engagierter Spanischlehrer  gegründet. Sie wollten Ausländern nicht nur Spanisch beibringen, sondern auch ein Gespür für die gesellschaftlichen und politischen Realitäten vermitteln. Mit dem Gewinn werden Projekte gefördert, welche die Lebensumstände der bedrängten indigenen Bevölkerung verbessern. Diesem Gedanken ist die Schule bis heute treu geblieben. Entstanden ist eine lebendige Sprachschule, die ca. 30 Lehrerinnen und Lehrerinnen ein angemessenes Einkommen sichert. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn Lehrkräfte werden hier ausgesprochen schlecht bezahlt. Gezielt fördert PLQ heute die Bildung Jugendlicher im ländlichen Raum. Die Mountain School, ein weiteres Projekt der PLQ, ermöglicht zahlreichen Familien den dringend benötigten Beitrag zum kargen Einkommen.

Die regelmässigen  Vorträge und Ausflüge am PLQ brachten mir unterschiedlichste Facetten der Geschichte und des politischen und sozialen Alltags näher. Die Cliches sind verblasst – heute habe ich mehr Fragen als zu Beginn. Aber ich beginne die Komplexität, Vielfalt und Schönheit dieses „reichen“ Landes mit neuen Augen zu sehen und zu schätzen.

Ich bin Guatemala angekommen – liebe auf den zweiten Blick!